Rassenschande? Die Hinrichtung von Stefan Widla und Jan Kosnik im »Polenlager« Kirchbichl

Annemarie Edenhauser und Hedwig Schwendter

Am 9. Juni 1940 ging der Blockleiter von Kirchbichl, Rudolf Lichtmanegger, mit seiner Frau Berta im Haidererwald spazieren. Gegen 20 Uhr sahen sie zwei Frauen: Annemarie Edenhauser und Hedwig Schwendter. Sie waren nicht allein, zwei Männer standen neben ihnen. Das Kennzeichen auf ihrer Kleidung identifizierte diese als Ausländer: »P« stand für Polen. Kurze Zeit nach dieser Begegnung fand eine Versammlung der Ortsgruppe der NSDAP Kirchbichl statt. Ortsgruppenleiter Ing. Franz Tröstner verlas eine Anordnung, die den Umgang Einheimischer mit Fremden streng verbot und mit schweren Strafen ahndete. Polnischen Männern, die sich mit Tirolerinnen einließen, drohte die Todesstrafe. Blockleiter Lichtmanegger meldete sich zu Wort und berichtete von seinen Wahrnehmungen im Wald. Auch SS-Obersturmführer Johann Huber aus Kirchbichl gab bekannt, die beiden Frauen gesehen zu haben: Im Moorstrandbad, wo sie sich mit Ausländern unterhalten hatten. Ortsgruppenleiter Tröstner war ein fanatischer Nationalsozialist. Er notierte die Mitteilungen gewissenhaft, erstattete beim Gendarmeriepostenkommandanten Otto Mattausch Anzeige und nannte die Namen der einheimischen Frauen. Mattausch leitete die Meldung an den Landrat Kufstein weiter, der die Gestapo einschaltete und die Einweisung der beiden Frauen in den Arrest des Amtsgerichts Kufstein befahl.

Am 15. Juni verhaftete Mattausch die 33-jährige Hedwig Schwendter, geborene Edenhauser, und ihre Schwägerin Annemarie Edenhauser, geborene Belfin, 28 Jahre alt. Beide waren Arbeiterinnen und wohnten in Häring, Edenhauser war gebürtige Kirchbichlerin. Schwendters Mann Leonhard diente in einer Wehrmachtseinheit in Wien, während sie die vier Kinder ihres Bruders Johann versorgte. Annemarie Edenhausers Ehemann Peter kämpfte an der Front, er war der Bruder von Hedwig Schwendter.

Der Postenkommandant verhörte die Frauen und beschrieb sie als politisch desinteressiert. Weder Schwendter noch Edenhauser waren Parteigenossinnen. Sie gestanden zwar, mit den Polen in einem Gasthaus einige Worte gewechselt zu haben, verneinten jedoch, mit ihnen im Wald spazieren gegangen zu sein. Aus Mangel an Beweisen warf der Gendarmerieposten Kirchbichl den Frauen in seinem Bericht einen schlechten Leumund vor: »Das Verhalten der Frauen verletzte das gesunde Volksempfinden gröblichst und erregte öffentliches Ärgernis.« Im Arrest in Kufstein widerstanden sie den intensiven Verhören, bis der Gestapo-Mann Kaspar Horngacher seiner ehemaligen Schulkollegin Annemarie Edenhauser die Freiheit versprach und ihr die Namen der polnischen Männer und ein Geständnis entlockte. Am 17. Juni 1940 verhaftete die Gendarmerie die Polen Stefan Widla und Jan Kosnik in Kirchbichl, fünf Tage später überstellte die Gestapo sie vom Arrest in Kufstein ins Innsbrucker Polizeigefangenenhaus, wo sich bereits die beiden Frauen befanden. Nach eingehenden Verhören in der Herrengasse deportierte die Gestapo Hedwig Schwendter und Annemarie Edenhauser am 5. September 1940 ins KZ Ravensbrück, ein halbes Jahr später ins KZ Auschwitz. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit überlebten beide die Torturen. Edenhauser kam am 29. Oktober 1943 frei, Hedwig Schwendter nach eigenen Angaben am 6. April 1944, vermutlich einige Monate früher.

Jan Kosnik und Stefan Widla

Jan Kosnik, geboren am 28. Mai 1905 im Stadtbezirk Wola in Warschau, Sohn von Joseph und Magdalena Kosnik, war seit 2. März 1930 mit Stanisława Dzierca verheiratet. Stefan Widla, geboren am 15. Oktober 1905 im Dorf Zabierzów, 12 km nordwestlich von Krakau gelegen, war ledig.

Unter welchen Umständen Kosnik und Widla Polen verließen, ist nicht bekannt,. Beide erreichten von ihrem Wohnort Krakau aus zwei Monate nach Kriegsbeginn am 9. November 1939 Tirol. In den Akten werden sie als »Zivilpolen« bezeichnet, nur die Haftkartei des Innsbrucker Polizeigefängnisses weist sie als Kriegsgefangene aus. Möglich ist, dass die NS-Behörden sie als Kriegsgefangene in den zivilen Status übergeführt oder sie in ihrem Heimatland angeworben hatten. Während Kosnik sofort nach seiner Ankunft in Kirchbichl arbeitete, war Widla bis 15. Jänner 1940 in Zell am Ziller tätig. Dann wurde auch er nach Kirchbichl geschickt. Beider Arbeitgeber war die Arbeitsgemeinschaft Bau Innwerk Kirchbichl, Innerebner & Mayer – Philipp Holzmann AG. Dies waren jene Baufirmen, die sich zusammengeschlossen hatten, um für die TIWAG das Laufkraftwerk zu errichten.

Widla und Kosnik waren im »Bauwohnlager« beziehungsweise »Barackenlager beim Innkraftwerk« untergebracht, das schließlich »Polenlager« genannt wurde. Sie arbeiteten in den Berufen, die sie auch in ihrer Heimat ausgeübt hatten: Widla als Maurer, Kosnik als Hilfsarbeiter. In den überlieferten Akten kommen sie nicht zu Wort, sie sind nur Gegenstand von Untersuchungen, Objekte, über die entschieden wurde. Man erfährt nicht einmal, wie Gestapo, Gendarmerie und Landrat sie während der Verhöre behandelt haben. Sicher ist, dass die Innsbrucker Gestapo-Abteilung II/A nach Abschluss der Befragungen das Dossier Kirchbichl der Abteilung II/E übermittelte, dem Referat für sogenannte Ausländerangelegenheiten. Schließlich landete der Akt auf dem Schreibtisch des provisorischen Leiters der Gestapo, Werner Hilliges. Er wandte sich an SS-Oberführer Heinrich Müller im SS-Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Damit ging alles den vorgezeichneten Weg: Die polnischen Arbeiter unterstanden einem Sonderrecht, auf Geschlechtsverkehr mit deutschen Frauen stand die Todesstrafe, ein Prozess war nicht vorgesehen. Die Gestapostellen hatten derartige Vorfälle zu untersuchen, zu bewerten und die Ergebnisse schließlich ans Reichssicherheitshauptamt zu übermitteln. Hinrichtungen waren von höchster Stelle zu genehmigen; noch dazu, wenn es sich wie im vorliegenden Fall um die erste Exekution von Ausländern im Gau Tirol-Vorarlberg handelte. SS-Oberführer Müller informierte Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der die Hinrichtung der Polen und den Transport der Tirolerinnen in ein Konzentrationslager anordnete.

Die Hinrichtung

Gestapochef Werner Hilliges benachrichtigte Gauleiter Franz Hofer und stimmte sich mit ihm ab. Am Sonntag, dem 1. September 1940, telefonierte er mit dem Kufsteiner Kreisleiter Hans Ploner, damit dieser seinen Propagandaapparat zur Warnung der Bevölkerung und der ausländischen Arbeitskräfte in Bewegung setze. Hilliges rief auch den Landrat von Kufstein, SS-Sturmbannführer Dr. Wendelin Pflauder, an und informierte ihn über die bevorstehende Exekution. Er forderte ihn auf, alle nötigen Maßnahmen zu treffen, um die Bevölkerung von der Richtstätte fernzuhalten.

Nach Rücksprache mit Gauleiter Hofer wies der Landrat am Vormittag des 2. Septembers Heinrich Lentsch, den neuen Gendarmerie-Postenkommandanten von Kirchbichl, an, das Lager und die Zugangsstraßen großräumig zu sperren. Lentsch zog für diese Aufgaben die Gendarmen von Kirchbichl zusammen und forderte weitere von auswärts an, so auch Beamte der Stadtpolizei Kufstein. Die SS hatte den Auftrag, sich um die Überwachung der Hinrichtungsstätte und die Aufsicht im Lager zu kümmern. Hilliges traf am Richtplatz in der Begleitung von rund 20 Gestapo-Beamten ein; insgesamt sollen sich etwa 50 SS-Männer, vor allem von der SS-Standarte Kufstein, eingefunden haben. Sie wurden darüber aufgeklärt, dass zwei Polen zum Tod durch den Strang verurteilt worden seien, weil sie sich mehrmals mit deutschen Frauen geschlechtlich eingelassen hätten. Der Galgen befand sich auf einem kleinen Hügel gegenüber dem Zwangsarbeiterlager am Nordende der Heroldswiese, an der Grenze zur Huberwaldung. Er war eine primitive Konstruktion: Auf einem Lichtmast war ein Querbalken montiert, von dem zwei Stricke hingen. Darunter befand sich eine Holzplattform mit einem Hocker.

Stefan Widla und Jan Kosnik dürften noch nicht gewusst haben, was ihnen bevorstand, als sie am Montag, dem 2. September 1940, gegen 14 Uhr in einem Auto der Gestapo, eingezwängt zwischen SS-Männern, im Lager Kirchbichl eintrafen. Insgesamt dürften sich dort und in der näheren Umgebung laut Gendarmeriekommandant Lentsch rund 100 Männer aufgehalten haben. Laut Werner Hilliges wurde den beiden Delinquenten das Urteil erst kurz vor der Hinrichtung bekanntgegeben.

Die Gestapo ließ den Ablauf der Hinrichtung fotografisch dokumentieren. Die Exekution ging so vor sich, dass Stefan Widla mit gefesselten Händen um 14 Uhr 45 auf den Hocker stieg, ein Landsmann ihm den Strick um den Hals legte und den Schemel umstieß, während die anderen vier Polen, die der Gestapochef ausgesucht hatte, mit aller Kraft am Strick zogen. Nach wenigen Minuten ließen sie das Seil nach, der leblose Körper glitt zu Boden und der Amtsarzt von Kufstein stellte den Exitus fest. Dann zogen die Polen ihren toten Kameraden wieder hoch.

Jan Kosnik dürfte in einer Lagerbaracke gewartet haben. Es muss ein Schock gewesen sein, als zwei Gestapo-Beamte ihn um 14 Uhr 50 zum Galgen führten und er seinen Kollegen am Strick baumeln sah. Kosnik starb auf dieselbe Weise, jedoch mit einem Unterschied. Es dürfte einige Zeit gedauert haben, bis Widla kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatte. Um den Tod von Kosnik schneller herbeizuführen, zogen nicht alle seine Kameraden am Seil; zwei oder drei hängten sich an seine Füße. Die polnischen Hilfskräfte mussten ein Grab ausheben, noch während Widla und Kosnik am Galgen baumelten. Hilliges befahl, die Polen aus dem Lager zu holen und sie vor der Richtstätte zu versammeln. Ein polnischer Dolmetsch übersetzte die unmissverständliche Warnung des Gestapochefs: Alle, die ein intimes Verhältnis mit deutschen Frauen eingingen, würden das gleiche Schicksal erleiden. Im Anschluss an Hilliges Rede mussten zwei Polen die Leichen abnehmen, die anderen konnten wieder ins Lager zurückgehen. Der Gestapochef zahlte den Handlangern jeweils 5 bis 10 Reichsmark. Sie legten die Leichen in die ausgehobene Grube, nach dem Krieg wurden sie in den Friedhof von Kirchbichl überführt, später in den Soldatenfriedhof Amras. Nach der Hinrichtung begaben sich Hilliges und seine SS-Männer in den Gasthof Drei Grafen (Neuwirth) zu einem Umtrunk, danach zum Essen in die Wildschönau.

Schuldübertragung

Welch pflichteifrige Haltung der Kirchbichler Postenkommandat Lentsch 1940 einnahm, ist seinem Eintrag in die Gendarmerie-Chronik zu entnehmen: »Die beiden Polen pflegten mit den Frauen [...] intimen Verkehr. Laut Merkblatt für polnische Arbeiter ist darauf Todesstrafe gesetzt. Die zwei Frauen sehen auch der gerechten und vom Volk geforderten Strafe entgegen.« Selbst drei Jahre nach Kriegsende hatte Lentsch seine Einstellung wenig geändert. Er suchte nicht bei sich eine Mitverantwortung für den Tod der beiden Polen und die lange KZ-Haft der beiden Tirolerinnen. Lentsch zeigte sich uneinsichtig, beharrte auf der Schuld der Frauen und berief sich auf Volkes Stimme: »Diese zwei Frauen haben keinen guten Ruf in der Gemeinde Kirchbichl und es ist mir auch gesagt worden[,] dass diese Frauen die Polen zu diesen Sachen verleitet [...] haben. Die Einwohner der Gemeinde Kirchbichl wären auch dafür gewesen[,] dass diese zwei Frauen miterhängt werden sollten[,] da sie die Polen zum intimen Verkehr verleitet haben.«

Damit lag Lentsch auf gleicher Linie wie Ing. Franz Tröstner, einer der Hauptschuldigen in der Affäre. Der ehemalige Ortsgruppenleiter von Kirchbichl hatte es nach dem Krieg vorgezogen, sich in Söll niederzulassen. Gegenüber den französischen Ermittlungsbehörden tischte er Lügen auf oder litt an Gedächtnisverlust, an die negative öffentliche Meinung über die einheimischen Frauen wollte er sich aber noch gut erinnern: »Von der Hinrichtung der Polen habe ich erst am Tag der Hinrichtung durch Zufall erfahren, wobei ich jedoch den Grund nicht wusste. (...) Ich kann mich bestimmt daran erinnern, dass allgemein nachher davon gesprochen wurde[,] dass wenn es sich wirklich um Frauengeschichten und um die Edenhauser handelte, dann hätte man lieber die Frauen als die Polen aufhängen sollen.«

Die Frage, ob Schwendter und Edenhauser tatsächlich eine intime Beziehung zu den Polen hatten, kann nicht endgültig beantwortet werden. Bei Befragungen durch die französische Militärjustiz betonte Annemarie Edenhauser, dass sie und ihre Schwägerin mit Widla und Kosnik öfter tanzen und auf Unterhaltungen gegangen waren, mehr jedoch nicht.

14 Jahre Kampf um Wiedergutmachung

Hedwig Schwendter brachte am 1. August 1944 ihren Sohn Engelbert zur Welt. Ihr war kein langes Leben beschieden, sie starb bereits am 25. Juni 1951 in Wörgl.

Annemarie Edenhauser war um ihre Rehabilitierung bemüht. 1946 stellte sie vergeblich ein Ansuchen auf Wiedergutmachung an das Amt der Tiroler Landesregierung. Im Herbst 1952 brachte sie neuerlich einen Antrag auf Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und auf Haftentschädigung ein. Die Opferfürsorgebehörde stellte Nachforschungen ein. Zunächst sah es gut aus. Der Gendarmerieposten Häring stellte fest: »Ihre seinerzeitige Inhaftnahme und spätere Unterbringung im Konzentrationslager erfolgte nach den durchgeführten Erhebungen rein aus politischen Gründen (Antinazi u. Rassenschande) während des Naziregimes.«

Im März 1953 bat Edenhauser um Beschleunigung des Verfahrens und um einen Vorschuss für die erlittene Haft: »Ich war durch meine politische Verfolgung so in den Notstand geraten, das[s] ich mich mit meinen niedrigen Monatseinkommen von meinem Ehemann bis heute nicht erholen konnte, sogar in Schulden geraten bin, obwohl ich mir nicht einmal die notwendigste Bett u. Leibwäsche anschaffen konnte. Mein Mann war auch längere Zeit krank und dadurch vermindertes Einkommen und erhöhte Ausgaben.«

Die Tiroler Opferfürsorgebehörde sah schließlich keinen Grund, Edenhausers Haft anzuerkennen, da sie keine politischen Motive erkennen konnte. Auf Veranlassung des Sozialministeriums musste sie aber eruieren, ob deren Beziehung zu einem Polen nicht nur aus »eigensüchtigen Gründen« eingegangen worden war. Die Behörde ersuchte deshalb den Kirchbichler Gendarmeriekommandanten um Auskunft. Dieser antwortete, dass er über das politische und sittliche Verhalten von Edenhauser »nichts stichhältiges« melden könne, dennoch wusste er zu berichten, dass sie mit Stefan Widla »intime Beziehungen« unterhalten habe, obwohl sie, betonte der Kommandant, verheiratet war: »Nach hierortiger Ansicht kann nicht angenommen werden, daß Annemaria Edenhauser wegen ihrer aktiven Betätigung gegen den Nationalsozialismus inhaftiert wurde, sondern vielmehr wegen der vorgeschilderten sittlichen Verfehlungen.« Der Postenkommandant von Häring meldete hingegen, dass Unterlagen, die eine antinationalsozialistische Haltung und positive Einstellung für ein freies Österreich unter Beweis stellen könnten, zwar nicht vorhanden wären, es aber »Angaben von vaterlandstreuen Bürgern von Häring« gebe, die dies bestätigten.

Ende März 1954 lehnte die Abteilung Opferfürsorge des Amtes der Tiroler Landesregierung die Anträge von Annemarie Edenhauser »mangels der gesetzlichen Voraussetzung« ab. Es liege keine politische Verfolgung vor und auch keine wegen der Abstammung. Die Begründung des Amtes entsprach exakt der nationalsozialistischen Argumentation, nur die Rassenlehre blieb außen vor: »Das Verbot des Verkehrs zwischen ausländischen Fremdarbeitern, die Angehörige eines Feindstaates sind, und der einheimischen Bevölkerung ist nicht allein in der weltanschaulichen Einstellung des Nationalsozialismus begründet (Rassenideologie), sondern entspringt dem Gedanken, daß derartige Beziehungen die Moral der kämpfenden Truppe und auch der Bevölkerung im Hinterland schwer gefährden, zumal wenn es sich – wie im gegenständlichen Fall – um eine verheiratete Frau handelt, deren Mann eingerückt ist; es stellt somit eine Schutzbestimmung im Interesse der Abwehrkraft des eigenen Volkes in Notzeiten dar, wie solche auch in demokratischen Staaten bestanden haben (Verbrüderungsverbot der Besatzungstruppen).«

Annemarie Edenhauser, die im selben Jahr den Tod ihres Ehemannes Peter zu beklagen hatte, legte daraufhin Berufung ein. Eine Antwort auf den Einspruch sucht man in ihrem Akt vergeblich. Das nächste Schreiben stammt aus dem Jahr 1959! Der neuerliche Bescheid der Opferfürsorgebehörde fünf Jahre nach der Ablehnung war aber nun positiv. Ihr wurden 41 Monate Haftzeit angerechnet und eine Entschädigung zugesprochen. Weshalb hatte die Opferfürsorgebehörde 1959 ihren Beschluss von 1954 aufgehoben?

Zieht man einen ähnlich gelagerten Tiroler Fall heran, so wird diese Entscheidung 14 Jahre nach Kriegsende nachvollziehbar. Das Bundesministerium für soziale Verwaltung hatte das Amt der Tiroler Landesregierung dahingehend aufgeklärt, dass eine positive Anwendung des Opferfürsorgegesetzes davon abhänge, ob Gründe der Nationalität ausschlaggebend für die Verfolgung der Beziehung einer Einheimischen mit einem Ausländer waren. Das Ministerium stellte 1960 fest, dass die nationalsozialistischen Maßnahmen gegen den Umgang deutscher Staatsangehöriger mit »Ostarbeitern« auf die Diskriminierung und Verfolgung des NS-Regimes gegen bestimmte Nationen zurückzuführen sei: »Demnach ist unter Verfolgung ›aus Gründen der Nationalität‹ auch eine polizeiliche oder gerichtliche Haft zu verstehen, die wegen geschlechtlichen Verkehrs mit einem ukrainischen ›Ostarbeiter‹ verhängt wurde, [...] wobei dem Umstand, daß die zur Last gelegte Tat an sich in der privaten Sphäre des Opfers lag, keine Bedeutung zukommt.«

Polnische Staatsangehörige waren als erste unter ein diskriminierendes Sonderrecht gestellt worden, noch dazu unter ein besonders rigides, das für die »Ostarbeiter« Modellcharakter hatte. Daher war die ministerielle Argumentation, warum die Haftzeiten einer Tirolerin, die sie wegen eines Verhältnisses mit einem Ukrainer verbüßen musste, zu entschädigen seien, auf die Beziehung Edenhausers mit einem polnischen Staatsbürger anwendbar.

Als anerkanntes politisches Opfer stellte Annemarie Edenhauser 1964 den Antrag auf Zuerkennung einer Unterhaltsrente, da ihr Mann Peter inzwischen aufgrund eines Unfalls verstorben war und ihr Gesundheitszustand sich zunehmend verschlechterte. »Die Witwe Edenhauser ist infolge Nerven- und Herzleiden arbeitsunfähig«, meldete die Gendarmerie Kirchbichl. Ihrem Antrag wurde daher entsprochen.

Am 2. Dezember 1966 heiratete Annemarie Edenhauser im Alter von 54 Jahren ein zweites Mal: den 61-jährigen Mineur Leonhard Schwendter. Er war Witwer der 1951 verstorbenen Hedwig Schwendter, die er 1933 geehelicht hatte. Somit hatte Annemarie Belfin 1936 den Bruder und 1966 den Ehemann von Hedwig Schwendter geheiratet. Leonhard Schwendter starb 1975. In diesem Jahr führte der Chronist Fritz Kirchmair ein Interview mit Annemarie Schwendter, danach notierte er: »Obwohl erst 63 Jahre alt, macht die Frau einen gebrochenen Eindruck, lebt völlig zurückgezogen.« Rund 30 Jahre lang versorgte Margarete Canzek ihre Tante, »da sie nie aus dem Haus ging«. In ihren letzten sieben Lebensjahren war sie ständig auf Canzek angewiesen und zuletzt voll pflegebedürftig. Im Dezember 1990 wurde ein Blasenkarzinom entdeckt, am 19. Juni 1991 starb Annemarie Schwendter im Alter von 79 Jahren.

Ausländische Arbeiter des „Polenlagers“ in Kirchbichl, die ermordet wurden oder ums Leben kamen.

 Wladyslaw Kowalik (Wladislav Kovalik) / Jan Paoka

Am 3. August 1940 ertranken die beiden polnischen Arbeiter Wladyslaw Kowalik und Jan Paoka beim Baden in einem Wassergraben, sie wurden in Kirchbichl beerdigt.[1]

 Jan Kosnik (28.5.1905–2.9.1940) / Stefan Widla (15.10.1905–2.9.1940)

Jan Kosnik und Stefan Widla aus Polen arbeiteten am Bau des Innkraftwerks Kirchbichl. Einheimische Nationalsozialisten denunzierten die beiden und unterstellten ihnen ein intimes Verhältnis mit zwei einheimischen Frauen. Wegen dieses „Liebesverbrechens“ erhängte die Gestapo Jan Kosnik und Stefan Widla am 2. September 1940 im „Polenlager“ Kirchbichl.[2]

 

Ausländische Arbeiter, die vom Rechen des Kraftwerks Kirchbichl tot aufgefangen wurden:

 Josef Leopold

Die Leiche des jugoslawischen Zivilarbeiters Josef Leopold verfing sich am 29. Mai 1942 am Rechen des Innkraftwerks Kirchbichl.[3]

 Czrsto Kruczek (13.7.1924–8.6.1943)

Am 8. Juni 1943 hetzten Angehörige einer Streife des Reichsarbeitsdienstes den 18-jährigen polnischen Landarbeiter Czrsto Kruczek im Gemeindegebiet von Völs zu Tode. Der Häftling des Arbeitserziehungslagers Reichenau war bei Außenarbeiten an der Hochgebirgsschule der Polizei in Natters geflohen und reagierte nicht auf die Halt-Rufe der Streife. Da ihm der Weg zur Brücke versperrt war, zog er seinen Rock aus, der ihn als Erziehungshäftling verriet, und sprang in den Inn. Am 11. Juni wurde seine Leiche vom Rechen des Kraftwerks Kirchbichl aufgefangen. Die Beerdigung fand am nächsten Tag am Ortsfriedhof statt, formlos und ohne öffentliche Zeremonie.

 Hapka Iwaschina (1916–1943)

Die sowjetische Zivilarbeiterin Hapka Iwaschina arbeitete als Hausgehilfin in Hall in Tirol, angeblich plagten sie Depressionen. Am Morgen des 20. Juli 1943 fing der Rechen des Kraftwerks Kirchbichl ihren nackten Körper auf. Die Kriminalpolizei stufte ihren Tod als Selbstmord ein.

 František Mrázek / Franziskus Mrazek (1920–1943)

Der tschechische Zivilarbeiter František Mrázek war beim Kraftwerksbau im Ötztal eingesetzt und im Lager Beinkorb untergebracht. Seine Leiche wurde am 12. August 1943 beim Rechen des Kraftwerks Kirchbichl angeschwemmt. Er hatte seinen Freitod aus unglücklicher Liebe in drei Abschiedsbriefen angekündigt.

Ein unbekannter französischer Kriegsgefangener

Im April 1943 verfing sich eine Leiche am Kirchbichler Rechen, vermutlich die eines französischen Kriegsgefangenen.[4]


Diese Zusammenstellung wurde im Zuge der Aufarbeitung durch Univ.-Doz. Mag. Dr. Horst Schreiber erstellt. 

[1] Gendarmeriechronik Kirchbichl, 13.7. und 3.8.1940. Dank an Arno Rettenbacher, er recherchierte die Namen der Ertrunkenen im Totenbuch.
[2] Horst Schreiber: „Liebesverbrechen“, Zwangsarbeit und Massenmord. NS-Täter und Opfer in Tirol, Polen und der Sowjetunion, Innsbruck-Wien 2023, S. 33–71.
[3] Erich Andreas Schreder: „Reichsgau Tirol und Vorarlberg“ – der Wasserkraftspeicher des Deutschen Reiches, in: archäologie aktuell 10 (2024): Archäologie der Zwangsarbeit. Das „Lager am Wehr“ und das „Polenlager“ beim Innkraftwerk in Kirchbichl, S. 28–39, hier S. 36.
[4] Die Erkenntnisse zu Kruczek, Iwaschina, Mrázek und dem unbekannten Franzosen recherchierte Sabine Pitscheider.

Das Mahnmal

Im Jahr 2024 wurde zur Erinnerung und zum Dank an die ausländischen Zivil- und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangenen ein Mahnmal errichtet. Dieses stammt von den Tiroler Künstlern Martin und Michael Wilberger und steht symbolisch für die zwei polnischen Zwangsarbeiter und die beiden einheimischen Frauen, die wegen des Vorwurfs des intimen Umgangs miteinander hingerichtet beziehungsweise ins Konzentrationslager geschickt wurden. Umringt ist das Paar von acht Kriegsgefangenen, die mit stoischem Blick in Richtung Kraftwerk schauen.

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Archäologie der Zwangsarbeit
Das "Lager am Wehr" und das "Polenlager" beim Innkraftwerk in Kirchbichl, Tirol

Im Rahmen des Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahrens für den Ausbau des Kraftwerks Kirchbichl fanden umfangreiche Erhebungen zum Kulturgüterbestand statt. Diese führten 2013 und 2014 zu einer archäologische Ausgrabung am sogenannten Zwangarsbeiterlager „Am Wehr“, das zwischen 1942 und 1945 für eine Anzahl von maximal 60 Personen ausgelegt war, die mit Nachsorgearbeiten am seit 1941 im Betrieb befindlichen Innkraftwerk beschäftigt waren. Mit den Grabungen in Kirchbichl wurde erstmals in Tirol die Denkmalkategorie NS-zeitliche Lager durch eine Feldforschungsaktion näher untersucht. Damit konnten nicht nur wichtige Ergebnisse zur baulichen Lagerstruktur gewonnen werden, sondern lieferte das umfangreiche Fundspektrum auch Hinweise auf die Nutzungsdauer des Komplexes bis weit in die Nachkriegszeit. NS-zeitliche Gegenstände sind in der Minderzahl, weshalb die alltäglichen Lebensbedingungen der Arbeiter nur schlaglichtartig sichtbar werden. Beredtes Zeugnis legen dabei Munitionsreste und der Wehrmacht zuordenbares militärisches Equipment wie Teile einer Telefonanlage ab, die Rückschlüsse auf die Lagerverwaltung und die Bewachung der Insassen zulassen. Intensive Recherchen führten des Weiteren zur Ausforschung des Standorts des so genannten Polenlagers, in dem zwischen 1938 und 1942 bis zu 150 polnische Zwangsarbeiter einquartiert waren. Eine teilweise Ausgrabung des Lagers im Jahr 2016 erbrachte Barackenreste in Form von Pfahlrosten und Betonfundamenten und Fundstücke aus der Kriegszeit, darunter etwa ein Porzellanteller oder eine Champagnerflasche, die man der Lagerverwaltung zuordnen wird können. Das von einer lokalen Baufirma errichtete „Polenlager“ wurde 1942 systematisch abgebaut und die Baracken beim „Lager am Wehr“ wiederverwendet, was Archivquellen vermuten ließen, aber erst an Hand der Grabungsbefunde eindeutig bestätigt werden konnte. Insgesamt ermöglichen die minutiösen Forschungen in Kirchbichl einen exemplarischen Einblick in das komplexe Lagersystem einer Mikroregion während der NS-Herrschaft.